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Sprachlos am Zaun   Ein Essay von Dan Diner
Israels Existenz hat drei Begründungen. Nur eine kann das überleben des jüdischen Staates sichern.

Es war irgendwann in den späteren 1950er Jahren. In der bescheidenen Residenz des israelischen Ministerpräsidenten in Jerusalem führten David Ben Gurion und Nahum Goldmann bis in die frühen Morgenstunden ein Gespräch. Zwei Persönlichkeiten sassen da zusammen, die ungeachtet ihrer gemeinsamen zionistischen überzeugungen von Grund auf verschieden waren: auf der einen Seite Goldmann, der grosse Diplomat und Fürsprecher der Juden in aller Welt, ein ironischer Skeptiker in der Tradition der Diaspora. Auf der anderen der von einer Aura prophetischer Gewissheit umgebene Ben Gurion, ein Mann der Tat, der sich des Instrumentariums der Macht ohne Zaudern zu bedienen wusste - nach innen wie nach aussen.

In diesem Gespräch äusserte Ben Gurion einen überraschend düsteren Gedanken. Er glaube schon, dass man ihn, den fast 70-Jährigen, noch in israelischer Erde begraben werde, seinen Sohn Amos aber wohl kaum noch. Erschrocken fragte Goldmann nach den Gründen für einen derartig überbordenden Pessimismus. Nach einigem Zögern gab Ben Gurion seine tiefsten Zweifel preis: Die Araber würden Israel niemals akzeptieren. Ja, sicher, Gott habe das Land dem Volke Israel versprochen. Aber, fuhr Ben Gurion fort, dieser Gott ist unser Gott. Für die Araber hat das keine Verbindlichkeit. Die Vernichtung der europäischen Juden, der Holocaust? Da sei es doch eher an den Deutschen, das Rheinland zu räumen, um Platz für die Errichtung eines jüdischen Staates zu machen. Was aber hätten die Araber damit zu tun? Nach längerem nachdenklichen Schweigen gab Goldmann mit der ihm eigenen Ironie zurück: Er hoffe, die Araber dächten nicht wie Ben Gurion.

Das nächtliche Gespräch zwischen Nahum Goldmann und Ben Gurion berührte den Kern des Konflikts zwischen Arabern und Juden: die Frage der Legitimität. Das heisst: Wie rechtfertigen Juden und palästinensische Araber gegenseitig ihren Anspruch auf das Land? Beider Selbstverständnis ist eng mit einer religiösen und kulturellen Deutung der Geschichte verbunden. Dieses jeweils eigene kollektive «Narrativ» versuchen sie sich gegenseitig, nötigenfalls mit Gewalt, aufzuzwingen.

Was Israel betrifft: Seine Legitimität ist nicht eindeutig, sondern teilt sich in drei Begründungsvarianten. Die von Ben Gurion referierte göttliche Zusage könnte man die einseitige, die unilaterale Legitimitätsbegründung nennen. Ein solcher Anspruch freilich kann andere nicht verpflichten, schon gar nicht die unmittelbaren Kontrahenten im Konflikt, die Araber. So muss dieses Argument gleichsam physisch durchgesetzt werden - in Form fortgesetzter Besiedelung des unter Berufung auf die Bibel als «Judäa und Samaria» vereinnahmten Gebiets. Die Besiedlungspolitik ist also ein im Wortsinne durchschlagendes Argument, ein Projektil im Diskurs unilateraler Legitimität. Die legitimatorisch in Anspruch genommene göttliche Verheissung des biblischen Landes bindet in säkularer Verdünnung auch jene Israelis, die aus pragmatischen Gründen - vor allem eines erstrebten Ausgleichs mit den Palästinensern wegen - zu den seit 1967 besetzten Gebieten Abstand halten. Im innerisraelischen Diskurs über Legitimität aber erliegen sie dem Zwang der unilateralen Argumentation. Denn diese bedient sich in suggestiver Weise der Vorgeschichte des Staates Israel, um eine über die Grenzen von 1948 hinausgehende Besiedelung zu rechtfertigen. Wer sich Hebron verweigere, heisst es da, verwirke den Anspruch auf Tel Aviv. So lässt sich die - durch die jüngste Eskalation des Konflikts in ihrer Widerstandskraft geschwächte - pragmatische Mehrheit von den Siedlern und ihren Parteigängern argumentativ zur Geisel nehmen.

Dabei böte sich den Gegnern einer fortgesetzten Besiedlung über die «grüne Linie» hinaus so manch gutes Argument. Die Grenzlinien von 1948 sind nämlich gewissermassen sakrosankt - in beide Richtungen. Immerhin handelt es sich dabei um die «Grenzen von Auschwitz». So nannte sie der damalige israelische Aussenminister Abba Eban nach dem überwältigenden militärischen Sieg von 1967. Er wollte damit allerdings ausdrücken, dass ein Rückzug auf die Grenzen von 1948 wegen ihrer prekären militärischen Tiefe nicht infrage komme. So prägte Abba Ebban das Wort von den «Grenzen von Auschwitz» in abwertender Absicht. In einem ganz anderen Sinne könnte dieses Bild aber eine Legitimität begründen, die aus der Ungeheuerlichkeit des Holocaust schöpft. So ist das Jahr der Staatsgründung Israels auf das engste mit der Zeitikone 1945 und des ihr vorausgegangenen wie nachfolgenden Geschehens verbunden. Schliesslich ist der Staat Israel 1948 ja auch tatsächlich, wenn nicht sogar kausal, so doch auf alle Fälle aus dem Kontext des Zweiten Weltkriegs, mit dem Holocaust als seinem Kern, hervorgegangen. So leitet Israel aus der an den Juden exekutierten ultimativen Vernichtung auch das ultimative Recht ab, die «Grenzen von Auschwitz» mit der Androhung der ultimativen Vernichtung durch nukleare Waffen zu verteidigen. über diese Grenzen hinaus hat eine so begründete Legitimität freilich keine Geltung.

Die Legitimität der Grenzen von Auschwitz, Israels Grenzen von 1948 bis 1967, ist nur teiluniversal. Kategorisch verpflichtet der Holocaust nämlich nur die westliche Welt. Schliesslich war der Holocaust mit dem Antisemitismus auf das engste verbunden, und der wiederum steht in einer negativen Tradition der Christenheit. Nur wenn sich der Antisemitismus seinerseits über den Westen, also über die säkularisierte Christenheit hinaus, «universalisieren» sollte, könnte auch die an die Erfahrung des Antisemitismus anknüpfende Existenzbegründung des jüdischen Staates universale Geltung beanspruchen. Das wäre etwa der Fall, wenn die am Konflikt beteiligten Araber und Muslime sich die paranoide Weltdeutung des Antisemitismus zu Eigen machten und Israel nicht allein aus Gründen des Konflikts um die Besatzung heraus bekämpften, sondern allein deshalb, weil es existiert. Bislang fühlten sie sich jedoch frei von dieser Art des Antisemitismus und wiesen alle symbolischen Ansinnen zurück, sich dafür Verantwortung auferlegen zu lassen. Noch Mitte der neunziger Jahre verweigerte der damalige ägyptische Aussenminister Amr Musa den bei Staatsvisiten in Israel sonst obligaten Besuch in der Gedenkstätte für die Holocaustopfer in Yad Vashem - ganz im Sinne jener nächtlichen Aussage Ben Gurions, die Araber seien nicht auf den Holocaust zu verpflichten.

Neben der unilateralen Legitimität des göttlichen Versprechens und der teiluniversalen Legitimität der Grenzen von Auschwitz gilt noch eine weitere mögliche Seinsbegründung Israels. Sie ist ebenso einfach wie komplex: Israel habe ein unumstössliches Anrecht auf Existenz allein schon deshalb, weil es existiert. Solch scheinbare Tautologie blosser Faktizität ist naturrechtlich begründet - und damit universell. Und genau das macht diese Variante der Legitimität auch zu der einzigen realpolitisch tauglichen. Seitens der Araber bedürfte es allein der Anerkennung der Faktizität Israels - und das unabhängig von allen innerisraelischen Selbstbegründungen, ob sie sich nun auf die Bibel oder auf Auschwitz beziehen. Und in Israel selbst? Zur Geschichte der Landnahme, die zur Staatsgründung Israels führte, könnte sich eine derartige Begründung durchaus gleichgültig verhalten. Schliesslich ist nur derjenige zur Rechtfertigung der Vergangenheit aufgerufen, der auch beabsichtigt, sie in die Zukunft hinein zu verlängern. An eine Anerkennung des Faktischen, an eine Anerkennung pur et simple, mochte im übrigen auch Nahum Goldmann gedacht haben, als er Ben Gurions raisonnement über Legitimität mit der ironischen Bemerkung konterte, er hoffe, die Araber dächten nicht wie der israelische Ministerpräsident.

Die drei Arten der Legitimität - die israelisch-zionistische, die israelisch-jüdische und die «israelisch-israelische» - treten freilich nicht in Reinform auf, sondern in unterschiedlich gelagerten, zuweilen gegenläufigen Vermischungen. Welche Variante in jeweiliger Legierung dominiert, folgt politischen Konjunkturen und ideologischen Konstellationen, die nicht zuletzt auch von den arabischen Gegnern Israels mit beeinflusst werden. Auffälligerweise bleiben sie jedoch unausgesprochen. Umso nachhaltiger bestimmen ihre Codes und Zeichen untergründig die politische Agenda; ja, sie dringen tief in die Poren politischen Handelns ein. So kann auch der gegenwärtig zwischen Israel und den besetzten Gebieten entlang der Linie von 1948 gezogene Zaun als Ausdruck eines verschobenen Diskurses, als Ersatzhandlung für die gemiedene innerisraelische Kontroverse um das eigene nationale Selbstverständnis aufgefasst werden. Zwar wird der Zaun ebenso mit Argumenten der Sicherheit vor arabischen Anschlägen und Attentaten gerechtfertigt, wie sich früher (und mit umgekehrter Stossrichtung) die ideologisch motivierte Anlage von Siedlungen in den besetzten Gebieten einer sicherheitspolitischen Begründung bediente. Doch der Zaun ist nicht nur eine Sicherheitsvorkehrung. Er zieht vor allen Dingen eine Linie zwischen zwei wesentlichen Rechtfertigungsdiskursen des jüdischen Staates - zwischen der unilateralen Legitimität, wie sie von den Siedlern und ihren Parteigängern reklamiert wird, und der teiluniversalen Legitimität, die sich auf das alte Israel von 1948 und damit auf die Grenzen von Auschwitz beruft. Statt die Rangordnung jener Legitimitäten in der innerisraelischen Debatte politisch auszufechten, wird diese Auseinandersetzung mittels des Zauns in den Bereich einer Sicherheitsdebatte verschoben. Dabei werden unterschiedliche Ränge von Sicherheit markiert - eine höherwertige Sicherheit der Israelis im Kernland und eine minderwertige Sicherheit der Siedler in den besetzten Gebieten.

Wer nicht wie Ben Gurion dachte - oder vielmehr: nicht so denken durfte, waren die 1993 in Oslo verhandelnden israelischen und palästinensischen Gesandten. Ihnen war recht schnell deutlich geworden, dass ein Reden über historische Legitimität und damit über Vergangenheit nur zu einem Zusammenprall der jeweiligen Selbstbilder und zum Abbruch der Gespräche führen musste. Schliesslich ist die Vergangenheit eine virtuelle Zeit, im Grunde nur ein Text, der im Sinne der jeweiligen Selbstrechtfertigung unterschiedlich gelesen und interpretiert werden kann. Nur in der Gegenwart aber können sich kompromisswillige Israelis und Palästinenser begegnen. Um zu einem Friedensschluss zu gelangen, galt es, die Vergangenheit zu neutralisieren. Dies geschah, indem sich beide Seiten eine vorübergehende Amnesie auferlegten. Letzte Fragen des Konflikts - das Problem Jerusalems und des Tempelbergs sowie das Problem des palästinensischen «Rechts auf Rückkehr» - wollte man um den Preis des Scheiterns aufschieben. Und zwar möglichst lange - sodass beide Völker von den Segnungen des sich Zug um Zug einstellenden Friedens besänftigt werden könnten. Nach und nach, so hoffte man, würden der Politik damit die symbolischen und wenig kompromissfähigen Kerngehalte des Konflikts entzogen werden.

Dieses Kalkül ging nicht auf. Es wurde von Gegnern des israelisch-palästinensischen Ausgleichs auf beiden Seiten durchkreuzt. Die Anschläge von Hamas und dem Islamischen Dschihad zerstörten in Israel Illusionen. Auf der anderen Seite sorgte die fortgesetzte Siedlungspolitik dafür, dass die Palästinenser immer wieder an die Ursprünge des Konflikts erinnert wurden.

Ehud Barak, ein ausgewiesener Gegner der in Oslo eingeschlagenen Verhandlungsstrategie, legte es deshalb in Camp David im Sommer 2000 auf eine umfassende, auf eine endgültige Lösung des Konflikts an. Ein solches Vorhaben musste aber die Erinnerung an alle historischen Phasen des israelisch-palästinensischen Gegensatzes wachrufen. Die Verhandlungen endeten so in der Sackgasse existenzieller und im Prinzip miteinander nicht vereinbarer «letzter Fragen» von Zugehörigkeit und Legitimität. Camp David scheiterte an der Frage Jerusalems, namentlich an der Souveränität am Tempelberg, ebenso wie an der Frage der arabischen Flüchtlinge von 1948 - genauer gesagt am palästinensisch reklamierten «Recht auf Rückkehr». Dabei handelt es sich um Kernfragen der Legitimität - für beide Seiten.

Mit der Frage Jerusalems beziehungsweise der Souveränität am Tempelberg verbindet sich die biblische, die unilaterale Legitimität Israels. Das war nicht immer so. Frühe Zionisten, sogar der wenig zimperliche Staatsgründer Ben Gurion, waren über Jahrzehnte hinweg bestrebt gewesen, von den heiligen Stätten Abstand zu halten. Sie kannten die apokalyptischen Gefahren, die von ihnen ausgehen können. Mit dem Juni-Krieg 1967 aber hatte sich der Legitimitätsdiskurs in Israel verschoben. Jetzt wurde der Tempelberg zu einer Ikone des politischen Selbstverständnisses - und das, obwohl alle israelischen Regierungen aus wohlüberlegten Erwägungen heraus den Status quo an diesem Heiligtum unangetastet in der Obhut der Muslime belassen hatten. Die mit Baraks Verhandlungsstrategie der endgültigen Lösung des Konflikts aufgeworfene Souveränitätsfrage am Tempelberg machte eine Entscheidung unausweichlich. Die Folgen waren dramatisch.

Dramatisch wirkte sich auch die palästinensische Forderung nach einer israelischen Anerkennung des «Rechts auf Rückkehr» für die arabischen Flüchtlinge des Krieges von 1948 aus - immerhin ein Kernstück des palästinensischen Selbstverständnisses. über die Aufnahme einer auszuhandelnden Anzahl von arabischen Flüchtlingen und ihren Nachkommen nach Israel hinaus käme ein solches Zugeständnis einer israelischen Schuldanerkenntnis für Flucht und Vertreibung der Araber Palästinas gleich. Dies wiederum würde am Selbstverständnis der überwiegenden Mehrheit auch jener Israelis rühren, die sich mit den Grenzen von 1948, den Grenzen von Auschwitz, abzufinden bereit wären. Das palästinensische «Recht auf Rückkehr» aber würde das jüdische Gemeinwesen womöglich um seine demografischen Voraussetzungen bringen.

In Camp David waren vor zwei Jahren Fragen der Zugehörigkeit und Legitimität zum Gegenstand von Verhandlungen geworden. Beiden Verhandlungsführern - Arafat und Barak - drohte im Falle des Nachgebens in den Kernpunkten des jeweiligen kollektiven Selbstverständnisses der Bürgerkrieg. Den wünschten sie sich freilich nur beim jeweils anderen. Die Alternative zum potenziellen Bürgerkrieg im Inneren aber ist der Krieg nach aussen.

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